ENTLANG
Die Arbeit beinhaltet die Entscheidung das Nicht-Mögliche einzufangen, dem Entschwinden einen Ort zu geben.
Beim stundenlangen Autofahren einer wohlvertrauten Strecke kristallisiert sich ein entsprechendes Zeit-Raum-Körperempfinden. Das Flüchtige wird «greifbar», die Möglichkeit des Zugriffs mit der Kamera gleichzeitig verwehrt.
Das Auftauchen von Bildern in der Ferne, deren Konturen ein Hinausd(s)ehnen provozieren, das aber so gesehen im Moment des Abdrückens auf der Kamera schon wieder vorbei, schon wieder zu spät ist. Bei der späteren Auswahl zeigt sich so nicht Gesehenes, welches aber dem empfundenen Sehen näher kommt und durch die Montage des wiederum zeitverschobenen Spiegelbildes vervollständigt wird.
Das, durch die Schnelligkeit unmögliche und doch in einer gewissen Hektik versuchte Einfangen, kommt durch die Gleichzeitigkeit von jetzt (der den Moment fassen wollende Blick), nachher (das Klick der Kamera) und danach (das etwas später entstandene «Spiegelbild») zu einer in sich ruhenden Fassung.
Diese entspricht dem Empfinden einer Zeit- und Ortverschiebung, die sich beim Einlassen auf die in der Ferne liegenden Horizontkonturen einstellt, und sich in das gleichzeitige Erleben in der Nähe, der körperlichen Erschütterungen, Vibrationen und Schwankungen schiebt. Diese Spuren der Geschwindigkeit und Beschaffenheit der Strassen zeichnet der Bleistift als Verlängerung des Körperbewegungen auf, um die Fotografie in ihrer Aussage zu vervollständigen.
Ein Verrückt-Sein stellt sich ein, eine Art Schwebezustand, in dem sich die Paradoxien von Ferne und Nähe, Geschwindigkeit und Ruhe, Flüchtigkeit und Dauer, Innen und Aussen aufzulösen scheinen und zu anderen Bildern werden.
Stephanie Tangerding
ENTLANG
Teilt eine horizontale Linie ein leeres Blatt Papier, stellt sich die Unterscheidung in ein Unten und ein Oben ein, aber auch ein räumliches Empfinden, das den Tiefenraum bewohnen will und sich einer offenen Landschaft gegenüber sieht. Diesem Einfall in den Bildraum ist nur schwer zu widerstehen und vergleichbar mit dem Lesezwang, der Buchstaben nicht allein als Form, sondern als Laut und Zeichen erkennt.
Stefanie Tangerdings fotografische Arbeiten entfalten sich entlang dieser horizontalen Linie, die in einem dunklen Band das Hochformat durchzieht. Es verleiht dem einzelnen Blatt einen suggestiven Tiefenraum und bringt gleichzeitig die Serie in einen rhythmischen Zusammenhang. An seinen Rändern zeichnen sich Berge und Silhouetten von Bäumen und Wäldern ab, begleitet von einzelnen Wolken oder Nebelschleiern. Wie in der Aquarellmalerei verschwimmen mit der fotografischen Unschärfe die Farbverläufe, sodass Land fast nahtlos in Wasser und Himmel übergeht.
Die Sehgewohnheit verführt uns dazu, die Spiegelungen im Wasser nachzuvollziehen, das Landschaftsbild auf seinen Realitätsgehalt hin zu überprüfen. In der Spiegelung lassen sich zwar Ähnlichkeiten ausmachen, aber kein achsensymmetrisches Gegenbild.
Innerhalb dessen verweist das Bild auf seine konstruktive Natur. Die Landschaften wurden bei einer Autofahrt aus dem Fenster heraus fotografiert, in kurzen zeitlichen Intervallen. Die Fotografien wurden insofern manipuliert, als dass die Aufnahmen im Bild an der Horizontalen zeitversetzt aufeinandertreffen. Vorher und Nachher sind im Bild aufgehoben und die räumlichen Bezugspunkte von Himmel und Erde spiegelbildlich verunklärt und auf die bildliche Ordnung abgestimmt. En passant entstanden, verbergen sie den vorübergehenden Moment im ruhenden Spiegelbild der Landschaft.
Paarweise treffen zu den Landschaftsfotografien Bleistiftzeichnungen hinzu. Zarte verdichtete Lineaturen und Kritzel, die entfernt an topographische Kartographien erinnern. Sie sind die seismographische Aufzeichnung derselben Autofahrt mit Hand, Bleistift und Papier. In der Vergrösserung kann man beim genaueren Betrachten auch die teils ruckartigen teils sanft vibrierenden Bewegungen an der Akzentuierung der Linie ablesen. Nebeneinander platziert beziehen sich Zeichnung und Fotografie ohne kausale Verbindung in freier Assoziation aufeinander.
Visuelle Ähnlichkeiten zu Gebirgen und Tälern lassen sich ausmachen. Dennoch sind die Eindrücke im Vergleich zu den Fotografien anderer Art, eher vergleichbar mit einer körperlichen, viszeralen Empfindung, die über das Medium des Bleistiftstrichs übertragen wird. In der Serie treffen so unterschiedlich räumliche Orientierungssysteme aufeinander, in welchem Landschaft figürlich-abstrakt den visuellen und taktilen Sinn anspricht und eine eigene Topographie begründen will.
Manuela Casagrande