BEINAH
In einem feinen Koordinatennetz von Bedeutung, Befragung und Verortung lässt Stephanie Tangerding der Linie Lauf.
Die Handlung der zeichnerischen Geste, ohne vorhergehende Skizzen und Entwürfe ist ein Betreten eines ungewissen, offenen Raums, in denen sich mentale Prozesse und körperliches Agieren durchdringen, der Spur einer inneren Logik folgend.
Vom ersten Berührungspunkt an mit dem Papier eröffnen sich der zeichnerischen Linie unendliche Möglichkeiten: zuweilen entschieden, spielerisch, zögernd, stockend, gelassen, neugierig erzeichnet sie einen Umriss, eine Form, eine Wegspur; führt an eine Erinnerung heran, um sich in der vagen Zuschreibung wieder aufzulösen. Die Art und Weise der Zeichnung trägt bald den Duktus einer Handschrift, bald breitet sie sich in kreisenden, wiederholenden Formen aus oder tastet sich mit subtilen Strichen an einen fiktiven Landschaftsraum. Schrift, Ornament, Struktur und Figur sind in ihren Zeichnungen eng aneinandergekettet.
In ihrem gestalterischen Prozess streift die Künstlerin unterschiedliche Ordnungen der Sinneswahrnehmung wie Wegmarken auf einer Wanderung, bewegt sich mit der Linie auf dem schmalen Grat ihrer Gegensätze. «Die Kontinuität der Linie ist gleichzeitig ihre Wandlung» schreibt die Künstlerin, «diese Gleichzeitigkeit des Ungleichen, Ortung, die den Nicht-Ort nennt, zusammenfügen, was lose ist und Gefügtes zu wandeln, was in diesen Zwischenräumen stattfindet, interessiert mich.»
Im Liniengeflecht von wiederholenden, Rhythmen und Formen scheint man einer Wegspur, einer Fährte von etwas Vorausgegangenem zu folgen, das erst kürzlich oder schon vor langer Zeit den gleichen Weg passierte – ein zeitliches Differenzierungsgeschehen, das mit der verblassenden Linienspur auch die eigene transitorische Gegenwart einbezieht.
Wecken Horizont- und Umrisslinien einiger Werke vage Assoziationen an karge, weitläufige und lichtdurchflutete Landschaftsräume, so tendieren die jüngeren Zeichnungen zu einer direkteren, unmittelbareren Gegenüberstellung. Der Horizont drängt sich dabei ganz an den oberen Bildrand und führt den distanzierten Blick in die Ferne in einen nah herangezoomten Ausschnitt über. Ein Wechsel, der dem körperlosen Sehen auf Distanz eine physische Erfahrung einschreibt, in der sich die performative Eigenschaft der Linie im Zusammenspiel mit der Form entwickelt: In den organischen und geometrischen Motivfeldern zeichnet sich ein zyklisches Werden und Vergehen von Natur und Kultur ab. Ein Thema wird führendes Motiv, das sich imitierend fortsetzt, vervielfacht und im mäandernden Lauf wieder ausklingt. Gleich einem mehrstimmigen Kanon gesellen sich Gefährten dazu, die sich kontrapunktisch, harmonisch, dissonant, gleichwertig oder unabhängig zueinander verhalten.
So findet die Linie ihr Echo in unterschiedlichen Resonanzräumen: Musik, Klang, Schrift und selbst das feinsinnige Aequilibrium der Körperwahrnehmung nähern sich in der Reduktion auf die Linie an und entfalten im synästhetischen Empfinden gleichzeitig ihre Mehrstimmigkeit; dabei wandlungsfähig in der Art, wie Musik in Klang übergeht, die Schreibbewegung das Wort vergisst oder das Abbild, ja selbst der Umriss, sich in der Linie verliert. Ein Prozess des unermüdlichen Auf- und Abbaus, der im Bildraum hochgradig abstrakt und gleichzeitig in uns so real verankert ist.
Manuela Casagrande