REMEMBRANCE
Versteht man das Erinnern als eine Form des Vergegenwärtigens, zeigt sich Nähe und Distanz, bzw. die Abwesenheit von etwas real Dagewesenem in einer raumzeitlichen Konstellation. Im Medium der analogen Fotografie wird dieses Spannungsmoment besonders anschaulich. So begreift Roland Barthes das fotografische Bild als etwas, worin die Gegenwart des Bezugsobjektes spürbar bleibt. Mit der Behauptung «es ist so gewesen» ist die Fotografie wie mit einer Nabelschnur an die Existenz der dinghaften Wirklichkeit gebunden. Dennoch ist es weder Bild noch Wirklichkeit. Es zeigt sich als etwas Wirkliches, das man nicht mehr berühren kann.
Vergessen und «abhanden kommen» finden in der Arbeit von Stephanie Tangerding eine Entsprechung, wie das «vor-handen» oder «zu-handen» sein in der Vergegenwärtigung des Erinnerns. Die auf Stoffservietten gedruckten und auf Keilrahmen gespannten Fotografien betonen das «Handliche» mit der Art des Trägers und in ihrer Gegenständlichkeit als Bildobjekt. Fast so, als wollten sie mit der physischen Präsenz eine zeitliche Distanz überwinden und das was war, wieder «handhabbar» machen.
Die Fotos als auch die Servietten stammen aus dem Nachlass der Grosseltern. Sie zeigen Ausschnitte von Personen, keine Gesichter, nur Körper, Hände und Beine in verschiedenen Haltungen und Gesten, durchwoben vom filigranen Muster der Stoffservietten. Eine unbefangene, vertraute Nähe vermutet man in den ineinander verschlungenen jugendlichen Armen und Beinen; scheue, ungelenke Körperhaltungen, die vor der Kamera keine Posen kennen. An den zarten oder entschiedenen Gesten zeigt sich unterschiedliches Rollenverhalten. Lose am Körper herabhängende Arme scheinen noch das Gewicht der häuslichen Verrichtungen zu tragen. In den gewählten Ausschnitten erscheinen die Frauen mit ihren weissen Schürzen aus dem Feld der Sichtbarkeit ausgeblendet, wie ihre verblichenen Textilien. Die Frauen finden ihren Platz in Zwischenräumen oder an der Seite von Uniformen. In Positur gestellt bleibt den Männern die repräsentative Rolle vorbehalten.
Es ist nicht die Melancholie einer verlorenen Zeit, die Tangerdings Remembrance evoziert. Die Abwesenheit von Gesichtern sowie die gelenkte Aufmerksamkeit auf die Gesten weisen vielmehr über die Beschreibung von Individuellem hinaus auf den Körper als soziales Phänomen. Der Leib wird zu einer Art Zeitspeicher, zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft oder einer Epoche. Die aussersprachliche Geste verweist auf die gesellschaftliche Prägung und auf die unbewusste oder bewusste Aneignung von sozialen Normen.
Während erinnern in seinem Wortlaut auf die Innerlichkeit eines mentalen Prozesses hindeutet, ist im englischen remember die Teilhabe (member) eingeschrieben, die sowohl auf den Körper als auch auf ein Kollektiv verweist. Remembrance bringt dieses implizite Wissen der Körpererinnerung zur Darstellung.
Manuela Casagrande